Krisenpläne und Frühwarnsysteme im Fokus

Wie Politik und das Gesundheitssystem auf mögliche Pandemien vorbereitet sind, war am Montag, 1. Dezember 2025, Thema der zehnten Sitzung bei der Enquete-Kommission des Bundestags zur Aufarbeitung der Corona-Pandemie gewesen. „Das deutsche Gesundheitswesen hat die Herausforderung der Patientenversorgung größtenteils bewältigt“, sagte Dr, Johannes Nießen, kommissarischer Leiter des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit, mit Blick auf die Infektionen mit dem Coronavirus. „Gleichzeitig hat die Pandemie aber strukturelle Defizite in der Vorsorge und der Krisensteuerung offengelegt.“ Es habe eine fehlende Datenlage bei der Versorgung gegeben, was die wissenschaftliche Analyse sehr erschwert habe. Ein schnelles Informationsnetzwerk sei zu gewährleisten, mahnte er an. Das sei untrennbar mit der Digitalisierung verbunden. „Hier spielt die elektronische Patientenakte eine zentrale Rolle.“ Experte: Behörden als proaktive Koordinatoren Die Enquete-Kommission will in einem Austausch mit Sachverständigen prüfen, ob es bei der Bewältigung der Pandemie Versäumnisse und Fehler gegeben hat – und was in Zukunft besser gemacht werden könnte. Bei dieser Sitzung standen Vorsorge, Krisenpläne und Frühwarnsysteme im Fokus. „Die Pandemie hat gezeigt, dass eine Pandemie keine reine medizinische Krise ist“, sagte Prof. Dr. Peter Tinnemann, Leiter des Gesundheitsamtes in Frankfurt am Main, und verwies auf die Abhängigkeiten von Lieferketten. „Die Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes müssen auf allen Ebenen von reaktiven Behörden zu proaktiven, strategischen Koordinatoren weiterentwickelt werden.“ Szenarien seien zu planen und bessere Datensysteme anzuschaffen. Die bisherige fragmentierte Datenerfassung müsse überwunden werden. Tinnemann warb für den Aufbau von Kompetenzzentren für Krisenmanagement, wo Expertise gebündelt werden könne. Der öffentliche Gesundheitsdienst im föderalen System Mehrfach gingen die Sachverständigen auf die föderale Struktur der Bundesrepublik ein. „Der öffentliche Gesundheitsdienst als Einheit existiert in Deutschland nicht“, berichtete Dr. Kristina Böhm, Leiterin des Amtes für Gesundheit und Prävention in Dresden. „Nicht jedes Bundesland hat ein Landesgesundheitsamt.“ Und Pläne auf Papier würden niemandem nutzen, „wenn man nicht weiß, wo die Papiere liegen“. Dr. Peter Schäfer gab zu bedenken, dass es keine Blaupause gegeben habe. „Die bestehenden Pandemiepläne bezogen sich vor allem auf Influenza“, so der Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. „Zusätzlich erschwerten die bestehenden Vorgaben des Datenschutzes die Kontaktpersonen-Nachforschung.“ Schäfer kritisierte starre Regelungen, die es den Kommunen nicht erlaubt hätten, auf Hotspots zu reagieren. Experte: Nächtliche Ausgangssperren waren Fehler „Während der Pandemie und auch jetzt in der Aufarbeitung werden Grundprinzipien des methodischen Weges von Datenwissens nicht angewendet“, kritisierte Prof. Dr. Gerd Antes, Mathematiker und Medizinstatistiker. Er mahnte ein kontrafaktisches Denken an, das die Wirksamkeit von Maßnahmen daran messe, wie sich die Realität ohne diese entwickelt hätte. Es reiche nicht, allein auf verhinderte Infektionen und Todesfälle zu schauen, man müsse gleichzeitig medizinische, soziale, psychische und wirtschaftliche Schäden in den Blick nehmen. Die nächtlichen Ausgangssperren während der Lockdowns bezeichnete er beispielhaft als Fehler. Und: „Das Ausbleiben einer Katastrophe wurde als Beleg einer Wirksamkeit von Maßnahmen gedeutet“, was Antes als nicht zulässig beschrieb, „weil der notwendige Vergleich durch eine Behauptung ersetzt wurde“. „Gefahr ging von dynamischer Übertragbarkeit aus“ Prof. Dr. Christian Drosten verwies auf die internationale Perspektive, indem er sagte: „Es gibt keine deutsche Pandemie, die Fachexpertise ist international.“ Die Vorstellung, dass in den Gesundheitssystemen vieler Länder dieselben groben Fehler gemacht worden seien und dies von der internationalen Fachgemeinschaft bis heute nicht bemerkt worden sei, diese Vorstellung sei nicht mit der Realität abzugleichen, so der Direktor des Institutes für Virologie an der Charité Berlin. „Die Gefahr der Pandemie ging von der dynamischen Übertragbarkeit des Virus aus“, sagte Drosten. „In jedem Szenario einer unkontrollierten ersten Welle hätten sich aufgrund der enormen Übertragbarkeit in kurzer Zeit unvorstellbar hohe Verstorbenen- und Patientenzahlen ergeben.“ Die Effizienz der Pandemiekontrolle in Deutschland sei international anerkannt und hervorgehoben worden. Er verteidigte die damalige Entscheidung, Maßnahmen nicht vor allem nur auf ältere Menschen zu konzentrieren. Ohne eine allgemeine Infektionskontrolle hätten sich auch andere vulnerable Gruppen nicht angemessen schützen können. „Investieren in öffentliches Gesundheitswesen“ Einig waren sich die Sachverständigen, dass in den Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens weiter mehr investiert werden müsse. „Es braucht ein Bekenntnis des Bundestags für den ÖGD-Pakt, wir brauchen bald Klarheit“, sagte Schäfer mit Blick auf den Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Drosten warb für eine engere Zusammenarbeit mit dem von der Weltgesundheitsorganisation in Berlin gegründeten Data Hub zur Entwicklung von Frühwarnsystemen und bewertete Abwassertestungen als „neue Verfahren, die erstaunlich gut funktionierten“. Nießen, der auch Leiter des Kölner Gesundheitsamtes war, berichtete über den Aufbau einer Geodatenbank. „So konnten wir die Sicht auf sozial Benachteiligte lenken“. Prekäre Arbeitsverhältnisse mit wenig Möglichkeit für das Homeoffice zum Beispiel, beengter Wohnraum und häufigere Vorerkrankungen zählte er als Faktoren dafür auf, warum Bürger in sozial benachteiligten Orten überdurchschnittlich an Corona erkrankt seien. Im Laufe der Sitzung entwickelten sich einige Wortbeiträge zunehmend zu einer Auseinandersetzung zwischen den von der AfD benannten Sachverständigen-Mitgliedern der Enquete-Kommission und Drosten. „Das sind meine fünf Minuten“, sagte der Sachverständige Michael Nehls, als Kritik an der Länge seiner Ausführungen aufkam. „Die Höflichkeit im gemeinsamen Umgang bedeutet auch, dass Gäste, die hier freiwillig sind, die Gelegenheit bekommen, dazu Stellung zu beziehen “, sagte Franziska Hoppermann (CDU/CSU), die Vorsitzende der Kommission. Es handle sich um ein Fachgespräch, und nicht um eine Zeugen-Einvernahme in einem Untersuchungsausschuss. (ahe/02.12.2025)