27. November 1927: Reichstag stimmt den Verträgen von Locarno zu

Am Freitag, 27. November 1925, verabschiedete der Reichstag der Weimarer Republik den Gesetzentwurf über die Verträge von Locarno und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Die völkerrechtlichen Verträge, die vom 5. bis 16. Oktober 1925 im schweizerischen Locarno von den Regierungsvertretern der Länder Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und der Tschechoslowakei verhandelt und am 1. Dezember 1925 nach Zustimmung der Parlamente in London endgültig unterzeichnet werden sollten, enthielten wechselseitige Garantien der westlichen Grenzen Deutschlands, sahen Schiedsverfahren für Streitfragen vor und ebneten erstmals seit dem Ende des Ersten Weltkrieges den Weg zur politischen Gleichberechtigung Deutschlands im Kreis der europäischen Mächte. Anerkennung der Westgrenze Im Vertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien erklärten die Vertragsschließenden „die Aufrechterhaltung des sich aus den Grenzen zwischen Deutschland und Belgien und zwischen Deutschland und Frankreich ergebenden territorialen Status quo“ und die Unverletzlichkeit dieser Grenzen, wie sie durch den in Versailles am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrag festgesetzt sind. Darüber hinaus schloss Deutschland zweiseitige Schiedsabkommen mit Frankreich, Belgien, Polen und der Tschechoslowakei, denen zufolge Konflikte mit diesen Ländern künftig auf schiedsgerichtlichem Wege beigelegt werden sollten. Deutschland akzeptierte damit die im Vertrag von Versailles festgelegte deutsche Westgrenze zu Frankreich und Belgien, den Verlust von Elsass-Lothringen und Eupen-Malmedy und bestätigte die Entmilitarisierung des Rheinlands. Im Gegenzug sollte das Reich künftig gegen territoriale Sanktionen geschützt sein. Eine Anerkennung der Bestimmungen des Versailler Vertrags im Osten, insbesondere der Abtretungen des größten Teils der preußischen Provinz Posen, des östlichen Oberschlesiens und eines großen Teils Westpreußens an Polen sowie des Status von Danzig und der Korridorlösung erfolgte nicht. Die Schiedsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei sahen vor, dass Grenzstreitigkeiten zwischen den Ländern durch eine internationale Kommission bereinigt werden sollten, deren Bildung in den Verträgen festgelegt wurde. Friedensnobelpreis für Stresemann und Briand An den Verhandlungen hatten der deutsche Außenminister Dr. Gustav Stresemann (1878 bis 1929) und der französische Außenminister Aristide Briand (1862 bis 1932) maßgeblichen Anteil. Beide erhielten 1926 gemeinsam den Friedensnobelpreis für ihre Bemühungen, das von Krieg und Reparationen zerrissene Europa politisch zu stabilisieren und das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Verträge von Locarno brachten spürbare Verbesserungen der deutschen Position in der internationalen Politik. Erste sichtbare Ergebnisse waren der Abzug der Besatzungstruppen aus der Besatzungszone um Köln bis Ende Januar 1926 sowie die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mit ständigem Ratssitz am 10. September 1926. Bruch der Regierungskoalition Während die Verträge von Locarno Deutschland außenpolitisch eine Rückkehr aus der Isolation in die internationale Staatengemeinschaft ermöglichten, führten sie innenpolitisch zum Bruch der seit Januar 1925 bestehenden „Bürgerblock“-Regierungskoalition unter Reichskanzler Hans Luther (1879 bis 1962, parteilos) bestehend aus der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), dem Zentrum , der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Reichskanzler Hans Luther und Außenminister Dr. Gustav Stresemann (DVP) verteidigten die Verträge als Chance, wieder gleichberechtigter Teil der internationalen Staatengemeinschaft zu sein. Der Fraktionsvorsitzende der Deutschnationalen, Kuno Graf von Westarp (1864 bis 1945), hingegen kritisierte das Ergebnis von Locarno scharf und erklärte im Namen seiner Fraktion, man werde keinem Vertrag zustimmen, der als „Verzicht auf deutsches Land und Volk“ gedeutet werden könnte. Am 25. Oktober 1925 beschloss die deutschnationale Reichstagsfraktion den sofortigen Austritt aus der Regierungskoalition. Debatte im Reichstag In erster Lesung der Verträge am 23. und 24. November 1925 verteidigten Luther und Stresemann die Verträge und verwiesen auf die Bedeutung des Locarno-Paktes für Deutschlands Rückkehr in die Staatengemeinschaft. Luther machte auch deutlich, dass ein Rücktritt der verbliebenen Reichsregierung erst nach der förmlichen Unterzeichnung der Verträge am 1. Dezember in London erfolgen werde. Die Regierung müsse handlungsfähig bleiben, um außenpolitischen Verpflichtungen zeitgerecht nachzukommen. Nach dem Ausscheiden der DNVP-Minister Martin Schiele (1870 bis 1939, Reichsinnenminister), Otto von Schlieben (1875 bis 1932, Reichsfinanzminister) und Albert Neuhaus (1873 bis 1948, Reichswirtschaftsminister) habe sich das verbliebene Kabinett einhellig gegen den Gedanken der Reichstagsauflösung und für die Fortführung der Regierungsgeschäfte auf der verbleibenden parlamentarischen Basis ausgesprochen, um die rechtzeitige Beschlussfassung im Reichstag nicht zu gefährden. Nach dem Regierungsaustritt der DNVP konnten die Verträge am 27. November 1925 nur mit Hilfe der oppositionellen SPD ratifiziert werden. Zustimmung der Sozialdemokraten und der Mitte-Parteien Die Mitte-Parteien — Zentrum, DDP, DVP und BVP — sowie die Sozialdemokraten hatten früh ihre Zustimmung signalisiert. Ziel sei es, die Beziehungen zu den westlichen Nachbarn zu normalisieren und das Besatzungsregime im Rheinland langfristig zu überwinden, so der gemeinsame Tenor. Für die Sozialdemokraten begründete Dr. Rudolf Breitscheid (1874 bis 1944) in der dritten Lesung, warum diese geschlossen hinter der Vorlage stünden: „In der Beurteilung des uns vorliegenden Gesetzentwurfs sind wir absolut einig. Bei uns gibt es keinen Zweifel über die Notwendigkeit der grundsätzlichen Zustimmung zu der Vorlage.“ Breitscheid betonte die historische Tragweite des Beschlusses: „Was uns bestimmt, noch einmal das Wort zu ergreifen, das ist die historische Bedeutung des Moments, ist die ungeheure weltpolitische Tragweite der Entscheidung, die heute gefällt wird.“ „Ein wichtiger Schritt auf einem längeren Weg“ Zugleich dämpfte Breitscheid überzogene Erwartungen. Die Locarno-Verträge seien „nichts, was wir vom sozialdemokratischen Standpunkt aus als etwas Vollkommenes ansehen“, aber ein wichtiger Schritt auf einem längeren Weg. Entscheidend sei, dass mit den Schiedsverträgen und der Völkerbundsmitgliedschaft erstmals ein System friedlicher Streitbeilegung etabliert werde. Für die Deutsche Volkspartei hob Dr. Albert Zapf (1870 bis 1940) die realpolitische Bedeutung des Vertragswerks hervor. Locarno schaffe einen vertraglichen Schutz, der die verlorene eigene Wehrmacht teilweise ersetze. Zapf sprach von „Fortschritten für das besetzte Gebiet und für die ganze Westgrenze“. Gleichzeitig kritisierte er, die Okkupation des Rheinlands stünde im Widerspruch zum Geist des Vertrages und müsse deshalb auf Dauer beseitigt werden. Fundamentale Ablehnung von der KPD Für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) lehnte Clara Zetkin (1857 bis 1933) die Ratifizierung der Verträge ab und verurteilte sie als Instrument der westlichen Mächte. In ihrer Rede erklärte sie, der Garantiepakt sei „der Ausdruck des Ringens zwischen dem französischen und dem englischen Imperialismus um die Hegemonie in Europa und über die Grenzen Europas hinaus“. Deutschland werde darin zur „Schachfigur“, die London je nach eigenem Interesse bewege. Zetkin wandte sich scharf gegen die Hoffnungen der SPD auf Locarno und Völkerbund. Der „Geist von Locarno“ sei in Wahrheit „der Geist der Entente und insbesondere der Geist des englischen Imperialismus“. Statt westlicher Sicherheitsgarantien forderte sie ein enges Bündnis mit der Sowjetunion und rief die Arbeiter auf, sich nicht „durch den lügnerischen Pakt von Locarno“ binden zu lassen, sondern den Frieden „durch euren entschlossenen, einheitlichen, unerbittlichen Klassenkampf“ im Vormarsch mit der Sowjetunion zu sichern. Skepsis bei der Wirtschaftlichen Vereinigung Skepsis kam aus Teilen des bürgerlichen Lagers, insbesondere der Wirtschaftlichen Vereinigung (WV). Ihr Sprecher Anton Fehr (1881 bis 1954, Bayerischer Bauernbund) zweifelte daran, dass Locarno zu einer Befreiung der besetzten Gebiete führen werde. Ein „wahrer Geist des Friedens“ fordere das „sofortige Ende der Besatzung in allen deutschen Landen“. Fehr warnte vor unkalkulierbaren Nebenfolgen der Verträge und machte deutlich, dass die Wirtschaftspartei nicht in der Lage sei, den Locarno-Verträgen zuzustimmen. Andere Gruppen der Vereinigung wie die Deutsch-Hannoversche Partei und der Bayerische Bauernbund würden dem Gesetz nur zustimmen, „weil wir für den Fall der Ablehnung beim gegenwärtigen Stand der Dinge innen- und außenpolitische Wirkungen und wirtschaftliche Rückschläge von unabsehbarer Tragweite befürchten“. Fundamentale Ablehnung von DNVP und Völkischen Die DNVP deutete die Verträge von Locarno als Verrat an nationalen Interessen. Von Westarp sprach von einem „nationalen Schicksalsmoment“ und verband die Ablehnung der Verträge mit einem Misstrauensantrag gegen die Regierung Luther: „Wir ersuchen den Reichstag, dem von uns gestellten Antrag auf Entziehung des Vertrauens für die derzeitige Reichsregierung seine Zustimmung zu geben.“ Die DNVP sei bereit, für einen „dauernden und ehrenhaften Frieden“ einzutreten, dürfe aber nichts unterstützen, „was das deutsche Volk und Reich zu einem Volk und Staat minderen Rechtes stempeln“ könne und die Wiedererlangung der nationalen Einheit gefährde. Deutschlands Freiheit werde nicht durch „Nachgiebigkeit und neue Unterwerfung“, sondern nur durch „feste Vertretung des deutschen Rechtes“ gefördert. Der völkische Abgeordnete Albrecht von Graefe (1868 bis 1933, Deutschvölkische Freiheitsbewegung) sprach vom „Fluch von Locarno“, der das deutsche Volk „schmachvoller, als es bei Karthago war, zur Selbstvernichtung“ treibe. Er warf der Regierung vor, durch den Beitritt zum Völkerbund deutsche Souveränitätsrechte an eine äußere Instanz zu übertragen. Abstimmung und Inkrafttreten Nach intensiven Beratungen am 23., 24., 26. und 27. November 1925 wurde das „Ratifikationsgesetz über die Verträge von Locarno und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund“ am 27. November in namentlicher Abstimmung mit den Stimmen der verbliebenen Koalitionsparteien (DDP, Zentrum, DVP), der SPD und Teilen der Wirtschaftlichen Vereinigung angenommen. Mit Ja stimmten 292 Abgeordnete, mit Nein 174; drei enthielten sich. Nach der förmlichen Unterzeichnung der Verträge am 1. Dezember 1925 in London trat die Regierung Luther am 5. Dezember zurück. Am 10. September 1926 wurde Deutschland mit ständigem Ratssitz in den Völkerbund aufgenommen und die Verträge von Locarno traten in Kraft. (klz/20.11.2025)