Nachrichtendienste: Deutsch­land nicht im Krieg, aber auch nicht im Frieden

Deutschland befindet sich aktuell nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden. In diesem Befund waren sich die zu einer öffentlichen Anhörung am Montag, 13. Oktober 2025, vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKGr) des Bundestages geladenen Spitzen der Nachrichtendienste des Bundes einig. „Austesten der Reaktion des Gegenspielers“ Das Handeln Russlands, so sagte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Martin Jäger, sei darauf angelegt, „die Nato zu unterminieren, europäische Demokratien zu destabilisieren, unsere Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern“. Sinan Selen, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), nannte Russland „aggressiv, offensiv und zunehmend eskalativ“. Es gehe dem Gegner um das „Austesten der Reaktion des Gegenspielers“. Martina Rosenberg, Präsidentin des Bundesamtes für den Militärischen Abschirmdienst (MAD), sagte, gegnerische Akteure intensivierten ihre nachrichtendienstlichen Aktivitäten mit dem Ziel, „die Bundeswehr zu unterwandern, kritische militärische Infrastrukturen zu gefährden und die Stabilität unserer Streitkräfte sowie der gesamten Nato-Allianz zu unterminieren“. Alldem stellten sich die Nachrichtendienste des Bundes entgegen, betonten Rosenberg, Jäger sowie Selen und forderten verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeiten. Die dahingehenden parlamentarischen Aktivitäten seien zu begrüßen, machten sie deutlich. BND: Zunehmend verwischte Grenze zwischen Frieden und Krieg Die Zahl der Krisen und Kriege unter Beteiligung staatlicher Akteure habe sich seit 2010 verdoppelt, sagte BND-Präsident Jäger. Ein Charakteristikum dieser Konflikte liege darin, „dass sich die Grenze zwischen Frieden und Krieg zunehmend verwischt“. So führe Russland seit Februar 2022 einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und habe doch der Ukraine bis heute nicht völkerrechtlich den Krieg erklärt. „In Europa herrscht bestenfalls ein eisiger Friede, der punktuell jederzeit in heiße Konfrontation umschlagen kann“, lautete seine Einschätzung. Man müsse sich auf weitere Lageverschärfungen vorbereiten. Das Handeln Russlands sei darauf angelegt, die Nato zu unterminieren, europäische Demokratien zu destabilisieren, deren Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern. Ziel sei es, die eigene Einflusszone nach Westen auszuweiten und das wirtschaftlich vielfach überlegene Europa in die Abhängigkeit von Russland zu bringen. „Um dieses Ziel zu erreichen, wird Russland, wenn nötig, auch eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato nicht scheuen“, sagte der BND-Präsident. „Wir stehen schon heute im Feuer“ Um gegenhalten zu können, bräuchten deutsche Nachrichtendienste zuallererst ein verlässliches Echtzeit-Lagebild. „Wir müssen wissen, was unsere Gegner vorhaben. Wir müssen absehen können, wo sich Gefahren auftun“, sagte Jäger. Der BND werde bei Beschaffung und Auswertung künftig noch stärker modernste Technologien nutzen und „gezielt und konsequent höhere Risiken eingehen“, kündigte er an. So lasse sich ein Lagebild gewinnen, das zeige, worauf der Gegner ziele und im Idealfall auch aufzeige, wo seine Schwachstellen liegen. Der BND-Präsident warnte auch davor, sich in der Annahme zurückzulehnen, ein möglicher russischer Angriff käme frühestens 2029. „Wir stehen schon heute im Feuer. Unser Gegner kennt keine Rast- und Ruhezeiten“, sagte er. BfV: Russland ist aggressiv, offensiv und zunehmend eskalativ Durch Drohnenflüge, Störungen von GPS-Navigationssystemen und Luftraumverletzungen durch russische Kampfjets ist es nach Aussage von BfV-Präsident Selen allein im September zu einer Vielzahl von Vorfällen gekommen, die den zivilen Luftverkehr in Europa stark beeinträchtigt hätten. Auch wenn die Aufklärung noch anhält, seien die Angriffsoptionen für einen hybriden Akteur im Luftraum deutlich geworden. „Russland ist zweifellos aggressiv, offensiv und zunehmend eskalativ“, sagte Selen. Seine Dienste realisierten beinahe in Gänze die Prognosen des BfV und brächten die Angriffsvektoren ihrer Toolbox breit gefächert zur Anwendung. Dabei gehe es um das Austesten der Reaktion des Gegenspielers, die unverfrorene Setzung von Show-of-Force-Botschaften sowie eine „spürbare Verunsicherung in der Zielfläche“. „Russland gilt als Hauptverursacher für Sabotageakte“ Russland überschreite brandgefährliche Grenzen, „insofern es als Hauptverursacher für die Vorbereitung und Umsetzung von Sabotageakten in Deutschland und weiteren europäischen Staaten gilt“, sagte Selen. „Wir dürfen es nicht zulassen, weil Sicherheit und Souveränität aus Abschreckung und Wehrhaftigkeit resultieren“, betonte er und kündigte an, den Angriffen „effektiv entgegenzutreten“. Schließlich gelte es, die Bedrohungslage zu bewältigen – „und sie nicht allein zu beobachten“. Als zentrale Risiken sind aus Sicht des BfV nahezu gleichrangig die multipolaren Bedrohungen durch fremde Mächte, der internationale Terrorismus sowie unverändert auch der gewaltbereite und aktionsorientierte Extremismus zu betrachten, sagte der BfV-Präsident. Als besonders dringlich erachte es das BfV, dass sich seine Einsatzbereitschaft auch im virtuellen Einsatzraum entfalten kann, da sich gerade dort unverkennbar Gefahrenpotenziale verdichteten. Selen verwies auf schnelle Radikalisierungsverläufe durch digital erstellte, konsumierte und geteilte Propaganda, neue KI-gestützte Cyberangriffstools und die steigende Motivation zur Cybersabotage. „Das dürfen wir nicht ignorieren“, betonte er. MAD: Erhebliche sicherheitspolitische Herausforderungen MAD-Präsidentin Rosenberg sagte, der seit inzwischen mehr als drei Jahren andauernde Krieg in der Ukraine präge die geopolitische Ordnung Europas nachhaltig. In Verbindung mit einer nachhaltigen, komplexen hybriden Bedrohungslage „stehen wir vor erheblichen sicherheitspolitischen Herausforderungen“, machte sie deutlich. Sabotageakte, Desinformationskampagnen, Brandstiftungen und Drohnenüberflüge über zivile wie auch militärische Liegenschaften verursachten in Europa „Unsicherheit und ein Gefühl von Machtlosigkeit“. Gleichzeitig stellten extremistische Strömungen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr eine wachsende Bedrohung „für unsere demokratischen Werte und die Einsatzbereitschaft unserer Truppen“ dar, sagte die MAD-Präsidentin. Diese Herausforderungen erforderten ein gemeinsames, entschlossenes und umfassendes Vorgehen, das mit Priorität angegangen werde. Die Abwehr extremistischer Bestrebungen innerhalb der Bundeswehr bleibe ein zentraler Arbeitsschwerpunkt des MAD, machte Rosenberg deutlich. „Rechtsextremistische, islamistische und andere verfassungsfeindliche Ideologien haben in unseren Streitkräften keinen Platz“, sagte sie. Die internen Handlungsabläufe würden kontinuierlich verbessert und intensiviert, um solche Tendenzen „frühzeitig zu erkennen und zu bekämpfen“. Anhörung ein Auftrag des Kontrollgremiumgesetzes Paragraf 10 Absatz 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes (Kontrollgremiumgesetz) besagt: „Das Parlamentarische Kontrollgremium führt einmal jährlich eine öffentliche Anhörung der Präsidentinnen und Präsidenten der Nachrichtendienste des Bundes durch.“ Das Parlamentarische Kontrollgremium ist für die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes zuständig und überwacht den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst (MAD) und das Bundesamt für Verfassungsschutz. Die Bundesregierung ist nach dem Kontrollgremiumgesetz dazu verpflichtet, das PKGr umfassend über die allgemeinen Tätigkeiten der Nachrichtendienste und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten. Das PKGr kann von ihr außerdem Berichte über weitere Vorgänge verlangen. (hau/13.10.2025)