Tobias Winkler: Zerstörung von kritischer Infrastruktur muss international geächtet werden
Die OSZE muss sich wieder auf ihre Prinzipien besinnen, sagt Tobias Winkler (CDU/CSU), Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV), die vom 29. Juni bis 3. Juli 2025 in Porto zu ihrer Jahrestagung zusammenkam. Diese Prinzipien – vom Gewaltverzicht über die Unverletzlichkeit der Grenzen bis zur Achtung der Menschenrechte – seien für alle Teilnehmerstaaten verpflichtend. Russland sei jedoch dabei, die europäische Sicherheitsarchitektur zu zerstören. Um darauf als Staatengemeinschaft eine gemeinsame Antwort zu geben, gewinne die OSZE als Plattform des Dialogs an Bedeutung. Im Interview spricht Winkler über die Rolle Deutschlands in der OSZE, seine Vorhaben als gewählter Berichterstatter für politische Angelegenheiten und Sicherheit sowie darüber, was die von Russland angegriffene Ukraine jetzt am nötigsten braucht. Das Interview im Wortlaut: Herr Winkler, mit einer Reihe von runden Jubiläen wird in jüngster Zeit der Gründung von Institutionen gedacht, die die Nachkriegsordnung bis heute prägen, bzw. des deutschen Beitritts zu diesen Organisationen – vom Europarat über die Nato bis zur OSZE. So jährt sich am 2. August 2025 die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki zum 50. Mal. Was zeichnet die OSZE als größte regionale Sicherheitsorganisation der Welt aus? Wir sind als OSZE mit 57 Teilnehmerstaaten der Nordhalbkugel für den Raum von Vancouver bis Wladiwostok zuständig und blicken auf eine 50-jährige Geschichte zurück. Es gab einige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in denen die Organisation eine neue Rolle gesucht hat. Diese neue Rolle kristallisiert sich jetzt immer klarer heraus: aus dem traurigen Anlass, dass wir wieder auf eine Konfrontation zwischen Ost und West zusteuern, ausgehend von Russland auf der einen und den westlichen Staaten auf der anderen Seite, die darauf reagieren müssen. In diesem Kontext kehrt die OSZE zu ihren Wurzeln zurück und gewinnt als Plattform des Dialogs an Bedeutung. Wie sehr wird die Feierlaune durch die neuen Konflikte und Kriege in und um Europa getrübt? Massiv gestört wird die Feierlaune durch den russischen Krieg und die hunderttausenden von Soldaten und Zivilisten, die Opfer wurden, durch Tod, Verwundung, Traumatisierung, Vertreibung oder Entführung. Es ist uns nicht gelungen, den Frieden zu wahren. Außerdem beeinträchtigt uns als OSZE die russische Blockadehaltung bei wichtigen Entscheidungen oder beim Haushalt. Dennoch sind im Rückblick sehr viele Erfolge zu verzeichnen. Viele Missionen sind erfolgreich und garantieren Frieden und Stabilität. Der jüngste Erfolg ist die Unterstützung des Grenzabkommens zwischen Kirgisistan und Tadschikistan. Nicht hoch genug einschätzen kann man auch die Brückenfunktion der OSZE zwischen den zentralasiatischen Ländern und Europa auf der einen Seite des Atlantiks und den USA und Kanada auf der anderen Seite. Keine andere Organisation hat das in einer derartigen Breite. Ist diese breite Brücke ein historischer Schatz, den man jetzt reaktivieren muss? Unterschätzt wird aus unserer Perspektive als großes, in EU und Nato integriertes Land, wie wichtig die OSZE gerade für die Staaten aus dem postsowjetischen Bereich, vor allem Zentralasien ist, die nicht so viele Verbindungen zum Westen haben und nach Anknüpfungspunkten suchen und sich fragen: Sollen wir uns China zuwenden oder haben wir eine Chance, vom Westen als Partner wahrgenommen zu werden? In dieser Mittellage und vor diese Entscheidung gestellt ist die OSZE für diese Länder eine gute Plattform, um auch Neues zu säen, aus der die Pflanze eines Tages wachsen kann. Das Generalthema der Jahrestagung lautete: „50 Jahre Schlussakte von Helsinki: Die Auseinandersetzung mit einer neuen Realität in der OSZE“. Inwiefern wird insbesondere die OSZE mit einer neuen Realität konfrontiert? Die neue Realität besteht, spätestens seit Februar 2022 mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, in dem Versuch, die europäische Sicherheitsarchitektur zu zerstören. Hierauf gilt es, nicht nur seitens Nato und EU, sondern auch als OSZE, eine gemeinsame Antwort zu geben, wenn es beispielsweise darum geht, den Willen zur gemeinsamen militärischen Unterstützung zu stärken, Kriegsverbrechen zu dokumentieren oder der völkerrechtswidrigen Aggression mit wirkungsvollen Sanktionen zu begegnen bzw. deren Umgehung zu verhindern. Worauf kommt es an, damit die Organisation auch in den kommenden 50 Jahren Herausforderungen der Sicherheitsordnung erfolgreich begegnen kann? In der Helsinki-Schlussakte werden zehn Prinzipien benannt, wie das friedliche Zusammenleben der Teilnehmerstaaten funktionieren sollte, von der Respektierung der Grenzen über die friedliche Streitbeilegung bis zur Achtung der Souveränität. Heute sehen wir, wie Russland in der Rechtsnachfolge der Sowjetunion, der Unterzeichnerin der Helsinki-Schlussakte gegen nahezu alle Prinzipien verstößt, denen es nach wie vor verpflichtet ist. Unsere Aufgabe muss es sein, alle Teilnehmerstaaten der OSZE wieder auf diese Prinzipien zu verpflichten. Wie groß ist Ihre Hoffnung angesichts der neuen Schamlosigkeit in der Weltpolitik? Wenn man sich die Epoche in Erinnerung ruft, in der die OSZE, damals als KSZE, gegründet wurde: Diese Zeit der Ost-West-Konfrontation war vermutlich von deutlich mehr Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet als wir sie heute haben. Es ist bewundernswert, dass die damaligen Politiker die Tragweite erkannt und es zustande gebracht haben, in dieser Zeit eine solche Plattform des Austauschs zu schaffen. Auch wenn es keinen Masterplan dahinter gab und sich die OSZE zu ihrer heutigen Form erst entwickelt hat, bleibt ihre Gründung eine historische Leistung der damals Verantwortlichen. Und jetzt? Unsere Aufgabe wird es sein, nach dem russischen Krieg gegen die Ukraine, in einer wie auch immer gearteten Friedensordnung, das zu reaktivieren und die Staaten und Völker an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Weil wir alle an einem friedlichen Zusammenleben interessiert sein sollten und die Prinzipien der OSZE dieses auch garantieren. Hier zeigt sich der Mehrwert der OSZE als internationaler Organisation. Wir sind keine tief integrierte Wertegemeinschaft wie die Europäische Union. Mit ihren Prinzipien ist die OSZE eine Plattform des Dialogs und der Diplomatie, die Länder mit sehr unterschiedlichen Systemen zusammenbringt. Daher ist die OSZE so wertvoll. Wir brauchen auch diese Verbindung. Sie sind in der OSZE PV erneut zum Berichterstatter für Politische Angelegenheiten und Sicherheit gewählt worden. Während der Wintertagung hatten Sie die Leitlinien für Ihren jährlichen Bericht vorgestellt, der nun, während der Jahrestagung Anfang Juli, durch eine Resolution verabschiedet wurde. In dieser Zeitspanne ist viel passiert. Wie herausfordernd ist das für Sie als Verfasser des Berichts? Und was sind darin die wichtigsten Punkte? Ende März war bereits die Abgabefrist für mich. Jetzt, Anfang Juli, ist es unglaublich zu sehen, wie sich die Welt allein in diesen drei Monaten verändert hat. Während wir uns damals noch gefragt haben, ob die USA überhaupt an der Seite des Westens bleiben würde, konnten wir kritische Formulierungen diesbezüglich wieder zurücknehmen. Während der Ausschusssitzung in Porto haben wir über drei Tage zahlreiche Änderungsanträge diskutiert und die Resolution ergänzt. Die veränderte Weltlage – mit den Konflikten im Nahen Osten, Israel, Gaza, Iran, – über die dramatische Lage in Georgien, wo Politiker mehrerer Oppositionsparteien inhaftiert wurden, bis zur weiteren Unterstützung der Ukraine über Waffenlieferungen hinaus. Zusammen mit dem Bericht bildet die Resolution den aktuellen Stand ab und fordert die Teilnehmerstaaten zum Handeln auf. Was haben Sie sich als Berichterstatter im Ausschuss für Politische Angelegenheiten und Sicherheit für Ihr zweites Jahr vorgenommen? Ich möchte mich auf drei Punkte konzentrieren. Zunächst möchte ich den Fokus stärker auf die Region der OSZE selbst richten, statt weitere Weltregionen in den Blick zu nehmen. Hier, im Bereich der 57 Teilnehmerstaaten haben wir zahlreiche sicherheitspolitische Baustellen. Wir können nur dann nach außen stark auftreten, wenn wir nach innen gestärkt sind. Zweitens werde ich mich einsetzen für eine Rückbesinnung auf die zehn Prinzipien unserer Organisation als Verpflichtung der Staaten untereinander – vom Gewaltverzicht über die Unverletzlichkeit unserer Grenzen bis zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Und schließlich liegt mir ein Punkt am Herzen, wo der Handlungsbedarf in den letzten Jahren immer offensichtlicher geworden ist: Der Schutz der sogenannten kritischen zivilen Infrastruktur muss größere Aufmerksamkeit und eine höhere Priorisierung bekommen. Ob bei der Versorgung mit Strom, Gas oder Internet: Unsere Abhängigkeit ist gestiegen und Störungen treffen vor allem die Zivilbevölkerung. Was genau schlagen Sie vor? Es war ja auch ein Punkt in Ihrer Rede vor dem Plenum … Ich schlage vor, den Schutz kritischer Infrastruktur als unverzichtbare Lebensadern unserer vernetzten Welt auf ein völkerrechtlich geschütztes Niveau zu heben – ähnlich wie in der Genfer Konvention geregelt ist, dass man keine Krankenhäuser angreift. Kritische zivile Infrastruktur nimmt mittlerweile einen vergleichbaren Stellenwert ein. Während in Kriegen der Angriff auf zivile Kraftwerke oder die Wasserversorgung Kriegsverbrechen sind, gilt das Zerstören eines Datenkabels in der Ostsee oder Hackerangriffe auf die öffentliche Verwaltung lediglich als Beschädigung von Wirtschaftsgütern. Der Angriff auf solche Einrichtungen und Verbindungen muss international geächtet werden. Der Schutz kritischer Infrastruktur ist mittlerweile Gegenstand vieler Diskussionen, auch in anderen Organisationen, die sich meist noch um Definitionen drehen. Die OSZE ist da schon weiter? Ich möchte, dass da die OSZE Vorreiter wird. Formal könnte die besondere Schutzwürdigkeit solcher kritischen Infrastrukturen zum elften unserer Prinzipien werden. Das würde den hohen Stellenwert unterstreichen, den kritischer Infrastruktur, ähnlich dem Thema Unverletzlichkeit/Verletzung von Grenzen, heute hat: Es handelt sich um existenziell wichtige Verbindungen, die sehr schwer zu schützen, aber ziemlich leicht angreifbar und verletzbar sind – mit massiven Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Daher darf kritische Infrastruktur kein militärisches Ziel sein. Also, Definition, Ächtung, Sanktionsregeln: Wenn wir das als OSZE hinbekommen, könnten wir ein Vorbild für andere werden. Am Rande der Tagung hat die deutsche Delegation sich mit der Delegation der Ukraine getroffen. Worum ging es bei dem Gespräch? Dabei stand der Dank im Mittelpunkt, den die Ukraine Deutschland gegenüber nochmals zum Ausdruck gebracht hat: für die bisherige Unterstützung, humanitär, finanziell und mit Waffen. Dankbar ist die Ukraine aber auch für die neue Führungsrolle Deutschlands, mit der die Verteidigungskoalition der Ukraine gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands stabilisiert werden konnte. Mittlerweile wird Deutschland als größter Unterstützer angesprochen. Über den Dank hinaus haben die Ukrainer die dringende Bitte an uns gerichtet, die Kooperation im Bereich der Produktion von Rüstungsgütern vor Ort, in der Ukraine, etwa in Form von Joint Ventures, auszubauen – was es dem Land ermöglichen würde, sich immer mehr unabhängig zu versorgen. Sie haben ja bereits beträchtliche eigene Kapazitäten aufgebaut, auch mit unserer Hilfe. Das gilt es fortzusetzen, auch um im Kreml die Sinnlosigkeit der Angriffe vor Augen zu führen. Wie steht es um den Schutz der dortigen Produktionsanlagen? Über 80 Prozent der Schädigungen fügen sich die Kriegsparteien mittlerweile mit Drohnen zu. Entsprechende Abwehrmittel werden entwickelt. Die „moderne“ Kriegsführung wird uns dort vor Augen geführt. Die Ukrainer sagen uns heute: Wenn wir noch eine Panzerhaubitze 2000 bekommen, das ist nicht schlecht. Aber besser wäre es, wenn wir 100 Drohnen losschicken. Die kosten nur einen Bruchteil und entfalten dabei die nötige Wirkung beim Gegner bzw. schließen dringend benötigte Lücken in der Luftabwehr angesichts der massiven Zunahme der Schläge der russischen Armee auch gegen zivile Ziele. Es hat sich ja ein Muster entwickelt, dass nach jedem Gespräch mit dem russischen Präsidenten dieser die ukrainischen Städte mit immer größerem Bombenhagel überzieht… Die Wahrnehmung der deutschen Delegation in der OSZE PV scheint groß. Was kann Deutschland dort bewirken? Als Delegation stellen wir uns nach der Bundestagswahl gerade neu auf und werden erst bei der nächsten Tagung vollständig vertreten sein. Aber die anderen Teilnehmerstaaten und Delegationen sehen ja: Es gibt eine neue Bundesregierung, einen Kanzler, der Bundestag arbeitet. Gerade die kleineren Länder haben hohe Erwartungen an Deutschland und gehen davon aus, dass wir uns, auch als Delegation in der Versammlung, egal zu welcher Fragestellung, positionieren. Diese Erwartungen sollten wir nicht enttäuschen und solche internationalen Gremien ernst nehmen. Es wird oft unterschätzt, was wir dort bewegen können. Jede Stellungnahme, ebenso wie eine Enthaltung, zieht eine Wirkung nach sich. Wie die Delegationen der anderen Länder auch, nehmen wir die Eindrücke und Beschlüsse, jetzt von der Jahrestagung aus Porto, mit nach Hause in unsere Parlamente und bringen sie dort in unsere politische Arbeit ein. Die Versammlung hat bei der Jahrestagung einen neuen Präsidenten gewählt. Was für Impulse erwarten Sie sich von dem spanischen Sozialisten Pere Joan Pons Sampietro? Ich kenne Pere Pons seit drei Jahren. Im Vorfeld seiner Kandidatur hat er sich präsentiert und auch das persönliche Gespräch mit mir und anderen Vorstandsmitgliedern unserer Delegation gesucht. Wir erwarten von ihm, dass er daran arbeitet, die Relevanz der OSZE PV zu stärken. Gleichzeitig muss er interne Reformen angehen, die dazu beitragen sollen, die Blockademöglichkeit durch einzelne Teilnehmerstaaten zu verringern. Beispielsweise könnte einem Land, das seine Mitgliedsbeiträge nicht zahlt, vorübergehend das Stimmrecht entzogen werden. Solche Geschäftsordnungsfragen sind kleinteilig und mühselig aber notwendig. Ich hoffe auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem neuen Präsidenten und, dass er der OSZE PV in den nächsten zwei Jahren eine Stimme gibt, die gehört wird. (ll/14.07.2025)