Rede von Emmanuel Macron, Staatspräsident der Französischen Republik
[Es gilt das gesprochene Wort.] Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin, Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin, Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Sehr geehrte Abgeordnete, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland hat einen Staatsmann verloren. Europa hat eine Säule verloren. Frankreich hat einen Freund verloren. Wenn heute im Bundestag die Stimme eines Franzosen zu hören ist, dann ist das der Freundschaft dieses großen Deutschen zu verdanken, dessen Stimme dort so lange Zeit hindurch ertönte, länger als jede andere, ein halbes Jahrhundert lang. Mir wird damit eine große Ehre zuteil. Ich weiß zu ermessen, was das Ansinnen Wolfgang Schäubles über das Vertrauen zwischen unseren beiden Ländern besagt, was es über unsere Geschichte besagt und was es über unsere Zukunft besagt. Nacheinander hat Europa zwei seiner größten Vordenker verloren, Jacques Delors und Wolfgang Schäuble. Zwei Staatsmänner, die für ihre Länder und für Europa alles gegeben haben. Zwei Leben als Bindeglieder. Auf der einen Seite der Enkelsohn eines Schreiners, geboren an den Flanken des Schwarzwalds, auf der anderen der Enkel eines Landwirts, aufgewachsen in den Ausläufern des Zentralmassivs. Zwei Finanzminister mit der gleichen intellektuellen Aufrichtigkeit und demselben Verantwortungsbewusstsein, zwei Gründerväter der europäischen Einigung und der Aussöhnung der Völker. Sie sind im Abstand einer Nacht von uns gegangen, am 26. und 27. Dezember, und unser Herz als Europäer trägt seither zweifache Trauer. Sie, Herr Präsident Steinmeier, waren am 5. Januar gekommen, um an meiner Seite im Hof der Invaliden Jacques Delors zu ehren, und ebenso stehe ich heute im Halbrund des Bundestags, um den Lebensweg von Wolfgang Schäuble zu ehren, eines großen Dieners Deutschlands, eines großen Europäers und eines großen Freunds Frankreichs. Dabei war Frankreich für ihn als Kriegskind nicht mehr als ein Wort, das für dramatische Ereignisse stand, für Namen von Schlachten, von Toten und Zerstörungen, die er kaum verstand. Nur wenige Kilometer weiter, auf der anderen Seite der Grenze, lagen Colmar und Straßburg, so nah und doch so ungreifbar. Dann erhielten diese Namen Gesichter. Das freundliche Gesicht eines französischen Offiziers, der im Haus seiner Kindheit in Freiburg untergebracht war, in der französischen Besatzungszone. Die Gesichter treuer Freunde, die er nie vergessen sollte, die Gesichter von Frauen und Männern, mit denen er Werte und Projekte teilte. Dann kam die französische Sprache, die er lernte, die ihm die Türen zur französischen Welt von Literatur, Kultur und Film öffnete. Er las Albert Camus ebenso wie Hannah Arendt. Er liebte Catherine Deneuve ebenso wie Karin Dor, und Jeanne Moreau ebenso wie Maria Sebaldt. Später kamen Reisen, die Lichter von Paris, die endlosen weißen Gräber auf den Militärfriedhöfen der Vogesen. Und darauf folgte ein Ausspruch aus dem Mund von General De Gaulle, der sich 1962 auf Deutsch an die deutsche Jugend von Ludwigsburg wandte, in „seinem“ Land Baden-Württemberg: „Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! Eines großen Volkes.“ Diese Worte prägten sich ihm ein. Diese Worte, die Taten sind. Die freisprechen und versöhnen, die die Zukunft beider Länder wieder verknüpfen. Einige Monate später, am 22. Januar 1963, wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Er nahm uns in die Pflicht. Die Pflicht der Aussöhnung. Diese Aufgabe lag in den Händen mehrerer Generationen, denen Kohl, Brandt, Jacques Delors, Jean Monet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer angehörten, die „Gründerväter Europas“. Wolfgang Schäuble zählte zu dieser Generation des Aufbauwerks. Aus Ihren Worten, Frau Bundestagspräsidentin, Herr Friedrich Merz, entsteht vor meinem geistigen Auge das Fresko Ihrer kollektiven Geschichte. Schäuble hatte jedes dieser Ereignisse seit sechzig Jahren aktiv miterlebt und war im Laufe seines politischen Engagements zu einem lebendigen Gedächtnis geworden. Seine Jahre als Abgeordneter, sein starkes Engagement an der Spitze der CDU, inmitten dieser jungen Generation, die an der Seite von Helmut Kohl die Partei modernisieren wollte – ihn unterstützte er in einem entscheidenden Moment der Weltgeschichte. Seine Jahre als Innenminister, zweimal, als Finanzminister und Doyen Ihrer Regierung, als er Ihr Land durch die Turbulenzen des Jahrhunderts begleitete, voller Pflichtbewusstsein, voller Überzeugung. Trotz dieses Dramas, das seinen Körper lähmte und sein Leben an diesem schrecklichen 12. Oktober 1990 in ein Vorher und ein Nachher teilte: in „zwei Leben“. Doch es gelang ihm, diese beiden Leben zu verbinden, über die Verletzung hinaus. Ebenso gelang es ihm, die beiden Teile Deutschlands zu vereinen. Der deutsche Einigungsvertrag, zu dem er beitrug, neun Monate nach dem Fall der Mauer, war für ihn „der bewegendste Moment (seines) politischen Lebens“. Er wusste: Dieser Prozess der deutschen Wiedervereinigung war der Beginn einer neuen Ära Europas, denn die deutsche Einheit und die europäische Einigung waren – in den Worten von Helmut Kohl – zwei Seiten derselben Medaille. Seine Rolle an Ihrer Seite, liebe Angela Merkel, als Hüter der Finanz- und Haushaltsregeln in einem krisengeschüttelten Europa, wurde im restlichen Europa, darunter auch Frankreich, nicht immer verstanden. Davon blieb jedoch der Respekt der Mitgliedstaaten für diesen unabhängigen Freigeist unberührt, wie jene bezeugen können, die ihm beim ECOFIN-Rat und bei der Euro-Gruppe begegnet sind – viele von ihnen sind heute hier. Seine Verdienste um die Neuordnung Europas wurden 2012 mit dem Karlspreis ausgezeichnet. Er übernahm die Überzeugung von Robert Schuman, man müsse die Menschen auf europäische Lösungen vorbereiten, indem man den Anspruch auf Hegemonie und Vorherrschaft überall bekämpft. Er vertrat vehement die Interessen Deutschlands, wusste aber auch, dass in Europa niemand versuchen kann und darf, der Erste zu sein, niemals. Sein offener Patriotismus ging einher mit der Überzeugung, dass der Erfolg Europas vom Verständnis und der Zusammenarbeit seiner Mitgliedstaaten abhängt. Bei Frankreich ging er mit gutem Beispiel voran, mit dem er eine besondere Beziehung aufbauen wollte, zusammengeschweißt durch das gegenseitige Erlernen unserer Sprachen, verstärkt durch die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, bei der er hier an diesem Ort den Vorsitz führte, und durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Er hatte verstanden, dass von allen Grenzen des Kontinents die Sensibelste, die historisch am stärksten Verletzte, auch die Vielversprechendste und Fruchtbarste sein konnte. Der Vertrag von Aachen, den ich heute vor exakt fünf Jahren mit Kanzlerin Angela Merkel unterzeichnet habe, trug auch seine Handschrift. „Nur wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, können oft schwierige Fragen gelöst werden“, sagte er. Dieses Vertrauen nährte seinen Willen, „Europa zu denken“. 1994 schlug er zusammen mit dem Abgeordneten Karl Lamers vor, das Prinzip eines Europa zu institutionalisieren, in dem Föderalismus und treibende Kräfte eine größere Rolle spielen. Der Vorschlag enthielt einen „harten Kern“ europäischer Staaten mit einer gemeinsamen Währung und sollte willigen Ländern die Möglichkeit geben, ihre Integration voranzutreiben und überließ es interessierten Mitgliedstaaten, ob sie sich später anschließen wollten. Knapp dreißig Jahre später haben der Euro und Schengen bewiesen, dass diese Methode erfolgreich war, dass eine Avantgarde williger Länder den Weg der Vertiefung bahnen und gleichzeitig für all jene offen bleiben konnte, die später zu einer Teilnahme bereit waren. Das war Wolfgang Schäuble: Diese Vision, fest verankert im Pragmatismus. Dieser einzig wahre Mut, dem Disziplin den Weg ebnet. Nach ihm müssen wir weiter „Europa denken“, in einem sicherheitspolitischen Umfeld, das durch den Krieg in der Ukraine tief erschüttert ist und aus dem wir die Konsequenzen ziehen müssen: Diese Politik der „Zeitenwende“ hat Wolfgang Schäuble unterstützt, er setzte sich ab dem ersten Tag des russischen Angriffs für die Ukraine ein und war für einen Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO. Der Krieg vor unseren Toren, sagte er, zwingt Europa, erneut zusammenzukommen. Er fügte hinzu: „Bestimmte Werte – Frieden, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand – können wir nur gemeinsam erhalten, besser als jeder von uns allein.“ Der Lebensweg dieses großen Deutschen, dieses großen Europäers, zeigt uns, dass er die großen Transformationen seines Landes und die Transformationen des europäischen Projekts seit jeher als ein Ganzes verstand. Diese untrennbare Verbindung zwischen Deutschland und Europa ist die Alchemie, die Formel, durch die beide Länder seit dem Zweiten Weltkrieg aufblühen konnten. Und diese deutsch-französische Beziehung ist die Hüterin dieser Formel, dieser Verbindung. Als fundamentales Bindeglied Europas. Davon war Wolfgang Schäuble fest überzeugt, ebenso wie Jacques Delors, François Mitterrand, Helmut Kohl und ihre Nachfolger beiderseits des Rheins. Mehr denn je muss dieses Denken unser Handeln lenken. Es lebe Europa. Es lebe Deutschland. Es lebe die deutsch-französische Freundschaft.