Rede des Präsidenten des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Wolfgang Schneiderhan, in der zentralen Gedenkfeier zum Volkstrauertag am 16. November 2025

[Es gilt das gesprochene Wort] Anrede, vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Das ist Anlass für einen Rückblick, aber auch für einen Ausblick. 1945 lag Deutschland zu weiten Teilen in Trümmern, auch moralisch. Der Zweite Weltkrieg war kein normaler Krieg, falls es so etwas überhaupt gibt. Er war ein Angriffs- und Vernichtungskrieg mit 60 bis 70 Millionen Toten und in dessen Verlauf Millionen Menschen, die keine Kriegsteilnehmer waren, fabrikmäßig vernichtet wurden. So schien es im Mai 1945 schwer vorstellbar, dass Deutschland nach dieser Niederlage eine Zukunft haben könnte. 1955, nur zehn Jahre später, fand in Messina auf Sizilien eine Konferenz statt, die auf der Basis der schon bestehenden Montanunion den Weg zu einer Europäischen Gemeinschaft frei machte, aus der die heutige Europäische Union entstanden ist. Nicht zufällig lag der Konferenzort in Italien, das von Anfang an einer der Motoren der europäischen Einigung und ein enger deutscher Partner war. Dass der italienische Staatspräsident heute bei uns ist, unterstreicht das eindrucksvoll. Italien und unsere anderen westlichen Nachbarn waren bereit, mit Deutschland, in diesem Fall Westdeutschland, eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Leider sollte es noch 35 Jahre dauern, bis die Menschen in der ehemaligen DDR sich in diesen Verbund europäischer Demokratien einbringen konnten. Weitere 20 Jahre später, 1975, war der Kalte Krieg zwischen Ost und West zumindest eingehegt. Mit der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa vereinbarten alle Teilnehmerstaaten, auch die damalige Sowjetunion und das damalige Jugoslawien, einen klaren Gewaltverzicht. Konflikte zwischen West und Ost gab es weiterhin, aber ein Krieg in Europa schien ein für alle Mal undenkbar geworden zu sein. 1995, wieder 20 Jahre später, war die Sowjetunion zerfallen. Dies gab den Weg für die bislang neutralen Staaten Österreich, Schweden und Finnland in die Europäische Gemeinschaft frei. Die mittelosteuropäischen Staaten signalisierten ebenfalls ihren Wunsch, der Europäischen Union beizutreten, was dann knapp zehn Jahre später auch geschah. Aber es gab im Zusammenhang mit der Auflösung Jugoslawiens auch wieder Krieg in Europa. Das Jahr 1995 ist bedauerlicherweise fest mit dem Massaker von Srebrenica verbunden. Und heute, 2025, sind wir im vierten Jahr des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Dachten wir in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, es ginge „nur“ noch darum, die menschlichen, politischen und wirtschaftlichen Schäden des Krieges zu beseitigen und durch einen Aussöhnungsprozess zu flankieren, stehen wir jetzt fassungslos vor der nackten Aggression und den großen Zerstörungen. Auch die Auseinandersetzungen im Nahen Osten, mit ihren vielen zivilen Opfern von Überfall, Geiselnahme und Bombardement können uns nicht unberührt lassen. 1945 hatten wir wenig Hoffnung, 1955 sehr viel, 1975 waren wir beruhigt, dass die politischen Spannungen nicht eskalieren, 1995 mussten wir lernen, dass die Erwartung des Verschwindens der Konflikte und damit des Endes der Geschichte die Realität nicht abbildete. Wo stehen wir nun 2025? Hat es einen Sinn der Opfer vergangener Kriege zu gedenken, wenn doch immer wieder neue Kriege Leid und Zerstörung verursachen? Unsere Antwort ist eindeutig: Gerade weil kriegerisches Denken und Handeln selbst auf dem europäischen Kontinent nicht überwunden sind, ist es wichtig, die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft im Blick zu behalten. Die Gefallenen und Gestorbenen war nicht anonyme Soldaten oder unbekannte Bombenopfer. Es waren konkrete Menschen, mit einem Namen, einem Beruf, einer Familie – und mit Hoffnungen für das eigene Leben, die der Krieg jäh zerstörte. Wir merken durch unsere tägliche Arbeit im Volksbund, dass diese Menschen auch Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges in ihren Familien noch fehlen. Jährlich wird unsere Online-Gräbersuche, mit der man Gefallene und Vermisste finden kann, über 100.000 Mal genutzt. Wir schulden es den Kriegsopfern, ihrer zu gedenken. Ein Krieg entsteht nicht über Nacht, er wird vorbereitet durch die Verbreitung von Hass und Hetze, durch die Herabwürdigung anderer, durch die Einschränkungen der Freiheiten im eigenen Land. Politisch hat der Zweite Weltkrieg bereits 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begonnen. Auch der russische Krieg gegen die Ukraine ist durch die schrittweise Überführung Russlands in eine Diktatur vorbereitet worden. Diktatur und Krieg liegen eng beieinander. Im Umkehrschluss heißt das: Frieden und Demokratie gehören ebenfalls zusammen. Wo Krieg geführt wird, verschwindet die Demokratie. Wo die Demokratie abgeschafft wird, wird die Tür für den Krieg geöffnet. Die Menschen, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben verloren haben, als Soldaten, als Zivilisten, als Angehörige von Minderheiten, die in Konzentrationslagern ermordet wurden, sie alle mahnen uns: Engagiert Euch für den Frieden und erhaltet die Demokratie, lasst Euch nicht verhetzen! Seid solidarisch mit denen, die angegriffen und bedrängt werden – international und im eigenen Land! In einer Zeit der Krisen und Spaltungen in Europa ist es ein starkes Zeichen, dass heute Partnerorganisationen des Volksbundes aus 17 Ländern, darunter auch aus Italien, anwesend sind. Unsere gemeinsame Arbeit – in der Pflege der Gräber, in der historisch-politischen Bildung, in Gedenkveranstaltungen und im Engagement für Demokratie und Frieden – macht deutlich, wie notwendig und wertvoll die grenzüberschreitende Verständigung ist. Frieden ist eine gemeinsame Aufgabe. Der Volkstrauertag erinnert uns daran, was auf dem Spiel steht. Dass wir mit diesen Gedanken und dem Engagement für Frieden und Freiheit in Europa nicht alleinstehen, zeigt auch die Anwesenheit des italienischen Staatspräsidenten. Dafür, Herr Präsident, danken wir Ihnen.