Claudia Roth bei der IPU: Humanitäres Völkerrecht muss verteidigt werden

Parlamente müssen sich wieder lauter und konsequenter für die Bewahrung humanitärer Normen einsetzen, sagt Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Leiterin der Delegation des Deutschen Bundestages zur 151. Versammlung der Interparlamentarischen Union (IPU), die vom 18. bis 23. Oktober 2025 in Genf stattfand. Wo Normen unter Druck gerieten, entfalte die IPU eine starke Gegenbewegung. In der Generaldebatte habe sie betont: „Nie wieder darf die Menschlichkeit der Preis sein. Humanitäres Völkerrecht muss verteidigt und in neue Realitäten übersetzt werden.“ Die Parlamentarierinnen und Parlamentarier hätten sich darüber ausgetauscht, „wie Parlamente Gesetze und Haushalte so gestalten können, dass humanitäre Hilfe nicht zur ersten Kürzung im Budget wird, internationale Normen wirksam umgesetzt werden und neue Herausforderungen – etwa autonome Waffensysteme oder Cyberkrieg – geregelt werden“. Im Interview spricht die Abgeordnete aus dem Wahlkreis Augsburg über die Themen der Herbsttagung, die Stärken und Aufgaben von Parlamenten und darüber, was die IPU als Internationale Organisation einzigartig macht. Das Interview im Wortlaut: Frau Roth, in der vorletzten Wahlperiode waren Sie bereits Mitglied der IPU-Delegation. Als Staatsministerin für Kultur hatten Sie gewissermaßen eine Auszeit von dieser internationalen Bühne. Wie haben Sie die diesjährige IPU im Vergleich zu früher erlebt? Ich habe die IPU als Ort erlebt, an dem das, was wir in Parlamenten verhandeln, plötzlich wieder in ein globales, menschliches Licht gerückt wird. Nach meiner „Auszeit“ von der ständigen internationalen Bühne hat mich besonders berührt, wie sehr hier die humanitäre Dringlichkeit im Mittelpunkt steht – nicht als abstrakte Debatte, sondern als Appell an unsere Verantwortung. Das Gefühl, wieder Teil einer internationalen parlamentarischen Solidarität zu sein, war stark: Die Generaldebatte und viele Side-Events zeigten, dass Parlamente sich wieder lauter und konsequenter für die Bewahrung humanitärer Normen einsetzen müssen — und dass sie das auch konkret tun können. Was hat die IPU-Parlamentarier jetzt vorrangig beschäftigt? Zentrale Themen waren der Schutz der Zivilbevölkerung, der Respekt vor dem humanitären Völkerrecht, das Leid durch Hunger und die Verknüpfung von Krieg und Klimakrise. Wir haben diskutiert, wie Parlamente Gesetze und Haushalte so gestalten können, dass humanitäre Hilfe nicht zur ersten Kürzung im Budget wird, internationale Normen wirksam umgesetzt werden und neue Herausforderungen – etwa autonome Waffensysteme oder Cyberkrieg – geregelt werden. Aber auch die Klimakrise hat eine deutlich größere Rolle gespielt als in vergangenen Jahren, weil viele Länder und Regionen unmittelbar von den Folgen betroffen sind. Dazu gehören beispielsweise die pazifischen Inselstaaten, Länder in Afrika oder ein Land wie Neuseeland, wo mittlerweile Klima-Visa ausgestellt werden. Darum hat die Vorbereitung auf die Klimakonferenz in Belém eine große Rolle gespielt. Es ist wichtig und richtig, dass die IPU zur Konferenz in Belém eine eigene Tagung durchführen wird, bei der ich auch anwesend sein werde, um über die unterschiedlichen Herausforderungen der Klimakrise zu diskutieren und die parlamentarischen Dimensionen hervorzuheben. Die Menschen spüren, dass in der Weltpolitik gerade traditionelle Gewissheiten ins Wanken geraten, Regeln verletzt werden, Gewichte sich verschieben. Wie spiegelt sich dieses Bild in der IPU wider? Es spiegelt sich sehr deutlich — als Sorge und gleichzeitig als Antrieb. Auf der einen Seite erleben wir in verschiedenen Konflikten und Krisenregionen dieser Welt, dass Regeln verletzt werden: Krankenhäuser werden angegriffen, Helferinnen und Helfer getötet, humanitäre Normen unter Druck gesetzt. Auf der anderen Seite sieht man in der IPU aber eine starke Gegenbewegung: parlamentarische Bündnisse und Initiativen, die darauf drängen, Normen zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Die diesjährige Herbsttagung trug die Überschrift „Rolle der Parlamente bei der Bewältigung globaler Krisen“. Was leisten Parlamente dabei? Parlamente sind die Brücke zwischen Menschen und Politik: Sie können internationale Verpflichtungen in nationales Recht gießen, Regierungen kontrollieren, Haushalte für humanitäre Hilfe sichern und präventive Politik voranbringen. Zudem sind Parlamente wichtige Foren, um Narrative zu verändern – weg von Desinformation und Polarisierung, hin zu Mitmenschlichkeit und Verantwortung. Wie wirken sich die weltweiten Krisen auf die Zusammenarbeit innerhalb der IPU aus? Krisen erhöhen den Druck zur Zusammenarbeit, machen aber auch die Spannungen sichtbar, weil Mitgliedsparlamente sehr unterschiedliche Realitäten vertreten. Die IPU nutzt diesen Spannungsraum konstruktiv – durch Ausschüsse, Foren und bilaterale Treffen, die gemeinsame Standards stärken. Was wurde konkret beschlossen? Es gab wichtige Beschlüsse mit klarer politischer Signalwirkung. So wurde ein Antrag angenommen zur Zwangsadoption von Kindern, in dem die Verschleppung von ukrainischen Kindern durch Russland heftig kritisiert wurde. Das hat zu erheblichen Debatten geführt, und die russische Delegation hat mit allen Mitteln versucht, die Verabschiedung des Antrags zu verhindern. Wir konnten uns aber durchsetzen und waren im Rahmen der sogenannten 12+, der Gruppe der demokratischen Parlamente, sehr stark und konnten mit anderen erreichen, dieses Vorgehen von Russland deutlich zu verurteilen. Es gab zudem eine wichtige Dringlichkeit, die von Polen, Schweden und der 12+ eingebracht wurde, in der es um Cyberkriminalität, Cybergewalt und Cyber-Warfare geht. Das ist ein Thema, das uns auch in Deutschland sehr beschäftigt. Ich bin sehr froh, dass die IPU dieses Thema aufgegriffen hat, weil es weltweit neben Desinformation und Fake News eine neue Form von Gewalt ist, die uns alle bedroht. 40 Prozent der Delegierten waren Frauen, die sich klar zu Geschlechtergerechtigkeit positioniert haben und deutlich machen, dass Frauen in der Politik eine wichtige Rolle spielen müssen. Dabei haben wir auf der ganzen Welt Nachholbedarf. Welche Schwerpunkte setzte die Generaldebatte unter dem Titel „Einhaltung humanitärer Grundsätze und Unterstützung humanitärer Maßnahmen in Krisenzeiten“, in der Sie auch einen Redebeitrag geleistet haben? Die Generaldebatte drehte sich um „Wahrung humanitärer Normen und Unterstützung humanitärer Maßnahmen in Krisenzeiten“. Ich habe betont: Nie wieder darf die Menschlichkeit Preis sein; humanitäres Völkerrecht muss verteidigt und in neue Realitäten übersetzt werden. Zudem habe ich auf Geschlechtergerechtigkeit und die disproportionale Belastung von Frauen in Krisen hingewiesen. Welche Rolle spielt Europa mit seinen Konflikten auf der Weltbühne? Relativiert die Große Zahl anderer großer Kriege und Konflikte „unsere“ europäischen Auseinandersetzungen? Europa bleibt ein Gewicht auf der Weltbühne — politisch, wirtschaftlich und normativ. Die Vielzahl globaler Konflikte relativiert unsere europäischen Auseinandersetzungen nicht in moralischer Hinsicht: Jeder Krieg ist ein Angriff auf die Menschlichkeit. Europa muss seine Probleme sehen, aber auch global Verantwortung übernehmen. Wie wird Deutschland in der Staatengemeinschaft wahrgenommen? Deutschland wird vielfach als verlässlicher Partner wahrgenommen — jemand, der sich für multilaterale Lösungen, für Recht und für Entwicklungszusammenarbeit einsetzt. Zugleich wird erwartet, dass wir unsere Werte nicht nur rhetorisch verteidigen, sondern in konkretes Handeln übersetzen. Was gilt es in Deutschland zu bewahren? Man bewundert unsere stabile demokratische Kultur, die unabhängige Justiz, die lebendige Zivilgesellschaft und die Fähigkeit, Kompromisse zu finden. Daraus schöpfen wir innenpolitische Stärke und außenpolitisches Vertrauen. Entscheidend ist, dass wir als Partner verlässlich und somit glaubwürdig bleiben – etwa indem wir unsere Zusagen in der internationalen Klimafinanzierung einhalten. Was bedeutet die Perspektive der anderen Weltregionen für Ihr politisches Handeln? Andere Weltregionen lehren uns, dass Lösungen lokal gedacht werden müssen: Afrika lehrt Resilienz und Gemeinschaft; die Pazifikinseln machen spürbar, dass Klimaschutz immer auch Lebensschutz ist. Das bedeutet: zuhören, Lernprozesse anstoßen und Partnerschaften im gemeinsamen Interesse eingehen, statt auf nationale Abschottung zu setzen. Die IPU-Tagung ist das globale parlamentarische Forum, das die Delegationen gerne intensiv für bilaterale Treffen nutzen. Mit wem hat die deutsche Delegation über was gesprochen? Die Delegation nutzte zahlreiche bilaterale Treffen und Side-Events, etwa mit Vertreterinnen und Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und anderer Parlamente. Themen waren humanitäre Hilfe, Rüstungskontrolle, Klimafolgen und Kinderrechte in der digitalen Welt. Ein wichtiges Gespräch fand mit Vertreterinnen und Vertretern der türkischen Delegation statt, weil die nächste IPU-Tagung in Istanbul stattfindet. Als Delegationsleiterin hatte ich zudem einen intensiven Austausch mit Martin Chungong, dem Generalsekretär der IPU, der über 16 Jahre die IPU modernisiert, reformiert und gestärkt hat. Rücken gleichgesinnte Länder angesichts vieler Krisenherde zusammen? Ja — es entstehen Koalitionen und thematische Allianzen, etwa für den Schutz humanitärer Normen oder gegen Landminen. Diese Zusammenarbeit ist nötig, um Mehrheiten für Resolutionen zu bilden und gemeinsame Handlungspläne zu entwickeln. Wie geht die IPU mit Ländern um, die andere Werte vertreten? Die IPU ist ein inklusiver Raum — sie bringt auch Delegationen aus Ländern mit problematischen Menschenrechtslagen an einen Tisch. Das ist schwer, aber wichtig: durch Dialog und klare Regeln schafft sie Räume für parlamentarische Solidarität. Spielt die IPU als älteste internationale Organisation und Vertretung der Parlamente eine angemessene Rolle in der Weltpolitik? Ja — die IPU hat eine einzigartige Legitimität: parlamentarische Stimme, Nähe zu Bürgerinnen und Bürgern sowie die Fähigkeit, Normen in Gesetzgebungsprozesse zu übersetzen. Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der multilateralen Architektur. (ll/27.10.2025)