Haushaltspolitikerin Inge Gräßle: EU braucht Freihandel und Bürokratieabbau
Die Wettbewerbsfähigkeit Europas war zentrales Thema bei der Herbstausgabe der Interparlamentarischen Konferenz über Stabilität, wirtschaftspolitische Koordinierung und Steuerung in der Europäischen Union (SWKS) am 29. und 30. September 2025 in Billund (Dänemark), berichtet Dr. Inge Gräßle (CDU/CSU), Leiterin der deutschen SWKS-Delegation. Angesichts globaler Herausforderungen gelte es, den EU-Binnenmarkt zu stärken und neue Freihandelsabkommen abzuschließen. „Gerade jetzt, wo das Denken in Blöcken wieder massiv zurückkommt, sind solche Abkommen von unschätzbarem Wert“, erklärt die CDU-Haushaltspolitikerin. Zusätzlich bestehe die Notwendigkeit, Mehrausgaben für Verteidigung zu stemmen: „Ohne Sicherheit ist alles nichts.“ Im Interview spricht Gräßle über den neuen Willen der Parlamentarier „zu einer wirklich gemeinsamen Bedrohungsabwehr“, ihre Hoffnung auf „eine deutlich höhere Effizienz“ des Rüstungsmarktes und mahnt eine strikte Überwachung des neuen Verteidigungsfonds an, damit alle Mitgliedstaaten den Stabilitäts- und Wachstumspakts einhalten. Das Interview im Wortlaut: Frau Dr. Gräßle, die Europäische Kommission hat die Stärkung der EU-Wettbewerbsfähigkeit im globalen Kontext zu einer ihrer wichtigsten politischen Prioritäten erklärt – ein Thema, das auch Sie als Parlamentarierinnen und Parlamentarier beim SWKS-Herbsttreffen beschäftigt hat. Wodurch wird Europas Wettbewerbsfähigkeit jetzt vor allem herausgefordert? Dieser Punkt war sicher der Drängendste auf der Tagesordnung: Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs leidet die EU unter den hohen Energiepreisen. Diese lähmen gerade das energieintensive, produzierende Gewerbe und hemmen Wachstum – dazu kommen die Kosten der Transformation. Zusätzlich befinden wir uns in einem Systemwettbewerb mit China, wo subventionierte Industrien unsere Unternehmen unter Druck setzen. Gleichzeitig kämpfen wir mit den Folgen einer protektionistischen, erratischen Handelspolitik unseres wichtigsten Verbündeten, der USA. Jedenfalls war bei der SWKS erstmals wirklich deutlich spürbar, dass auch die nationalen Parlamente in der EU und um die EU zusammenrücken wollen, nicht nur beim Thema Verteidigung. Wie kann die EU ihre Position in der Weltwirtschaft stärken? Zentral sind drei Ziele: Erstens der Abschluss von wichtigen Freihandelsabkommen, die Absatzmärkte öffnen und Lieferketten absichern. In diesem Rahmen muss Mercosur möglichst schnell ratifiziert werden und an weiteren Freihandelsabkommen gearbeitet werden. Zum Beispiel mit Indien oder den USA – dass die TTIP-Initiative von Präsident Obama in Deutschland einer Angstkampagne links-grüner NGOs zum Opfer fiel, ist ein wirkliches Drama. Politik verzeiht keine Fehler! Zweitens: den Bürokratiedschungel lichten. Überflüssige bürokratische Vorschriften, die unsere Unternehmen belasten und Fortschritt und Innovation hemmen, müssen beseitigt werden. Macht endlich Ernst! Drittens: Kurzfristig müssen aber vor allem die strukturellen Nachteile des Europäischen Strommarkts beseitigt werden, um unseren Standort wettbewerbsfähig zu halten. Europa besteht aus starken Volkswirtschaften mit innovativen und wettbewerbsfähigen Unternehmen. Braucht es kreditfinanzierte staatliche Investitionen, um wirtschaftliche Dynamik zu entfachen? Auf keinen Fall! Deshalb gibt es den europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt; die jüngste Reform nimmt auf die veränderte weltpolitische Lage und die erforderlichen Mehrausgaben für Verteidigung Rücksicht. Das war auch ein klarer Punkt bei der SWKS: Papier ist geduldig, jetzt kommt es auf die Umsetzung durch die EU-Kommission an. Sendet sie weiter glaubwürdige Signale an die Mitgliedstaaten und die Finanzmärkte? Deutschland hat eine Schulden- und Haftungsunion immer ausgeschlossen, genauso Verschuldungsmöglichkeiten der EU. Die Verhandlungen zum nächsten EU-Finanzrahmen werden sicher eine Neuauflage dieser Debatte bringen. Im Übrigen zeigen viele EU-Mitgliedstaaten mit mehr Wachstum als in Deutschland, dass es dazu eigentlich keiner höheren Verschuldung bedarf. Steigende Schulden sind kein Zeichen der Stärke und führen zu höheren Refinanzierungskosten. Worauf kommt es bei kreditfinanzierten Investitionen an? Solche Investitionen müssen Strukturreformen unterstützen, dürfen sie also nicht verhindern. Nur so wird unsere volkswirtschaftliche Leistung erhöht. Investitionen in Infrastruktur sind immer richtig, andererseits stellt sich sofort die Frage nach einer höheren Inflation. Dies haben wir im Lauf der Diskussion um das Sondervermögen ständig besprochen und Vorkehrungen getroffen. Wir haben den Verwendungszweck der Sondervermögen absichtsvoll beschränkt. Ich bin mir sicher, dass wir damit Wachstum schaffen und damit auch mit steigenden Refinanzierungskosten umgehen können. Wie wird sichergestellt, dass nur nachhaltige, wachstumsfördernde Investitionen über eine höhere Staatsverschuldung finanziert werden? In Deutschland haben wir das Kriterium der Zusätzlichkeit in der Gesetzesgrundlage zum Sondervermögen verankert. Wichtig ist, dass wir die Zusätzlichkeit auch beim Wort nehmen und uns an die Regeln halten, die wir uns selbst gegeben haben. Setzt die Kommission mit ihrer Strategie „Der Kompass für Wettbewerbsfähigkeit und der Deal für eine saubere Industrie“ die richtigen Schwerpunkte? Jede Strategie „on top“ auf das, was wir schon haben, hilft nicht. Wir haben etwa den Green Deal, der nur sehr eingeschränkt unserer Wettbewerbsfähigkeit hilft. Die EU-Kommission müsste endlich ihre eigenen gesetzgeberischen Widersprüche beseitigen. Das tut sie aber nicht – und das ist das Problem: Dass bestimmte Produktionsweisen vorgeschrieben, andere verboten werden. Im Übrigen hat die EU das weltweit am weitesten entwickelte Umweltrecht gesetzt – mit der Industrie. Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem EU-Gesetzgebung den Standort Europa gefährdet. Der gemeinsame Binnenmarkt gilt seit Jahrzehnten als Kern des Erfolges der EU und ist auf der Welt ihr Alleinstellungsmerkmal. Nun hat die Kommission die Stärkung des Binnenmarktes als zentral bezeichnet, um die EU-Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Was fehlt dem gemeinsamen Markt noch? Stimmt alles, also macht es endlich! Der Abbau der internen, nicht tarifären Handelshemmnisse, etwa bei nationalen Produktvorschriften ist wichtig und entspricht einem Zoll von 44 Prozent bei Waren und 110 Prozent bei Dienstleistungen. Gerade hier sind nationale Sozialvorschriften, etwa bei der Entsendung von Arbeitnehmern, das Problem. Ich erinnere mich an mindestens fünf Initiativen der EU-Kommission zum Ausbau des gemeinsamen Markts, die stets an nationalen Politiken scheiterten. Solche fragmentierten Vorschriften und die fehlende Umsetzung von EU-Recht haben einen hohen Preis. Diese Baustellen sollten wir umgehend angehen. Welchen Beitrag zur globalen Wettbewerbsfähigkeit leisten die Handelsbeziehungen? Muss die EU ihre Handelsbeziehungen stärker diversifizieren? Freihandelsabkommen sind eine gute Sache, weil sie Rechtssicherheit bieten, Vorschriften transparent machen und damit Willkür in den Handelskontakten verringern, also den Handel insgesamt vereinfachen. Es ist wirklich erstaunlich, welche Potenziale solche Abkommen entfesseln. So spielt der der größte gemeinsame Markt der Welt seine Stärken aus. Wir können Freunde einbinden und solche, die es werden könnten. Wir können auch Schwellen- und Entwicklungsländern Marktzugang bieten. Über 70 Freihandels- und Präferenzabkommen gibt es, und natürlich müssen und sollen das mehr werden. Gerade jetzt, wo das „Denken in Blöcken“ wieder massiv zurückkommt, sind solche Abkommen von unschätzbarem Wert. Präsident Trump hat den internationalen Handelsregeln einen schweren Schlag zugefügt – auch deshalb ist Rechtssicherheit durch eigene Handelsabkommen noch wichtiger geworden. Muss Deutschland sich daran gewöhnen, dass immer häufiger wirtschaftliche Fragen und Geopolitik miteinander verknüpft werden? Wir sind in einem neuen Zeitalter angekommen. Wenn der Bundeskanzler davon spricht, dass wir Außen- und Innenpolitik nicht mehr trennen können, ist auch gemeint, dass keine Trennung mehr zwischen Wirtschafts- und Handelspolitik einerseits und Außenpolitik andererseits stattfinden kann. Internationale Akteure setzten die Handelspolitik und wirtschaftliche Subventionen gezielt als Werkzeug ein, um ihre internationale Verhandlungsposition zu stärken. Putin nutzte wirtschaftliche Abhängigkeiten für seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wer glaubt, wir könnten heute reine Wirtschaftspolitik ohne Berücksichtigung der internationalen Lage machen, ist auf beiden Augen blind. Ein weiterer Themenblock der Herbsttagung befasste sich mit der Frage, wie die EU beziehungsweise ihre Mitgliedstaaten die steigenden Verteidigungsausgaben finanzieren können. Wie stehen die Parlamentarier, vor allem als Haushälter, zu den beträchtlichen neuen Ausgaben für Verteidigung? Wir haben bei dieser SWKS eine 180-Grad-Wende bei den nationalen Parlamenten gesehen. Nach jahrzehntelangen Blockaden von EU-Initiativen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik gab es jetzt den starken Ruf nach mehr Gemeinsamkeit, Effizienz und einer wirklich gemeinsamen Bedrohungsabwehr. Es war wirklich erstaunlich. Als Haushälterin wäre ich glücklich, wenn Standardisierung und damit Effizienz endlich auch in den Rüstungsmarkt einziehen würden. Das muss und könnte jetzt anders werden. Die Erwartung ist, dass die Produktion billiger und besser wird, dass wir beim Thema Forschung in neue Systeme mithalten können und zu einer wirklichen Verteidigungsfähigkeit kommen. So wie bisher kann es nicht weiter gehen. Müssen wegen der anschwellenden Verteidigungsetats Ausgaben in anderen Bereichen gekürzt werden? Ohne Sicherheit ist alles nichts. Mir geht es vorrangig um mehr Effizienz. Der «Elefant im Raum» sind die 44 Prozent Sozialausgaben. Auch hier geht es um mehr Effizienz, um Lohnabstand des Bürgergelds, um zukunftsfeste Sozialsysteme. Also, es geht nicht um ein „Entweder-oder“, sondern um Strukturreformen und das Erreichen von Politikzielen. Haushaltskonsolidierung ist eine Chance, keine Bedrohung. Ich würde mir wünschen, dass unsere Sicherheit Priorität hat – und natürlich fehlten die Rufe aus nationalen Parlamenten nicht, dass keinesfalls die Strukturfonds gekürzt werden dürften. Priorisierung ist überall angezeigt. Sind Kommission und Mitgliedstaaten mit den verschiedenen Finanzinstrumenten auf dem richtigen Weg? Die Ausnahme von der Schuldenregel für nationale Verteidigung ist unbedingt richtig, aber eine strikte Überwachung auf europäischer Ebene auch. Jetzt wird gestritten, wie der neue Verteidigungsfonds verwaltet werden soll. Ich wäre für eine nationale Verwaltung unter EU-Überwachung. Außerdem muss ein Verfahren her für Mitgliedstaaten wie etwa Frankreich, wo gar keine Haushaltskonsolidierung politisch durchsetzbar scheint. Welche Aktion sollen die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank ergreifen? Wir sind an einem entscheidenden Punkt in der Eurozone angelangt, und unsere Verteidigungsfähigkeit hat damit direkt zu tun. Deutschland muss jedenfalls den Stabilitäts- und Wachstumspakts einhalten und darauf beharren, dass dies alle tun. Ist es nicht wenig nachhaltig, die neuen Verteidigungsausgaben über Kredite zu finanzieren? Konterkariert ein solches Vorgehen nicht die Fiskalregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes? Kriegszeiten sind die Zeit der Prioritäten. Unsere Verteidigungsfähigkeit muss an erster Stelle stehen mit der klaren Erwartung einer deutlich höheren Effizienz als bisher. Das ist kein Freibrief für den gesamten Staatshaushalt und darf auch keiner sein. Auch im nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) werden Verteidigungsausgaben eine größere Rolle spielen. Sollten EU und Mitgliedstaaten nach einer Überführung der zusätzlichen finanziellen Verteidigungslasten in reguläre Haushalte, also den MFR, den Bundeshaushalt, schnell wieder auf den finanzpolitischen Pfad der Tugend zurückkehren? Unbedingt. Ja. Auf jeden Fall. Übrigens ist das kein «finanzpolitischer Pfad der Tugend», so ein „nice to have“, sondern eine Überlebensfrage für unser Land und die Eurozone, ein Akt der Fairness für die junge Generation und ein Zeichen der Leistungsfähigkeit unserer Demokratie. (ll/06.10.2025)